Das kollaborative Paradox – Plädoyer für einen neuen Kollaborationsbegriff
[Gastbeitrag von S. Morghen] Social Innovation-Plattformen sind in den vergangenen Jahren wie Pilze aus den Böden des Webs geschossen. Viele basieren auf einem Methodikansatz, der 70 Jahre zurückgeht. Ein Plädoyer für einen neuen Kollaborationsbegriff.
Vielfältig in Aufmachung und thematischer Orientierung funktionieren die meisten Open Innovation-Plattformen nach einem ähnlichen Prinzip: Firmen oder Organisationen platzieren ihre Ideenfragestellungen (z. B. Produkt-, Namens-, Geschäftsmodellidee und viele weitere Themen) und Innovatoren reichen Ideenvorschläge ein. Die beste Idee oder die besten Ideen werden mit Geld- oder Sachprämien belohnt. Viele Unternehmen nutzen Social Innovation-Plattformen, wie diese Websites auch genannt werden, als Ergänzung zur eigenen in-house durchgeführten Innovationsentwicklung.
Die Mehrzahl der bekannten und etablierten Plattformen beruht im Wesentlichen auf dem Grundsatz des Gruppenbrainstormings, welcher auf Alex F. Osborn zurückgeht, einem Werber und Autor, der die Methodik 1939 erfand und den Begriff «Brainstorming» prägte. Die Technik, welche auf einigen wenigen Grundregeln basiert und über das Zusammentreffen von Menschen in einer Gruppe lebt, wurde im Laufe der letzten 70 Jahre zum Synonym für «Ideen finden». Sie beruht unter anderem auf der Erkenntnis, dass mehrere Menschen mehr und vor allem bessere Ideen haben; bessere deshalb, weil sich die Beiträge unterschiedlicher Teilnehmer über das kreative Zusammenarbeiten zu neuen Lösungen kombinieren lassen. Soweit dieTheorie von Alex F. Osborn.
Die Krux mit dem Kollektiv
«Das ist nur die halbe Wahrheit», regt sich bereits seit einiger Zeit laute Kritik in eingefleischten Forscherkreisen auf dem Gebiet der Sozialpsychologie. Verschiedene Studien widerlegen den positiven Effekt, welcher der Gruppe in Gruppenbrainstormings auf die Qualität der Ideenresultate nachgesagt wird. Im Gegenteil: Nach der Ansicht und gemäss Studien von Sozialpsychologen, wie beispielsweise Professor Wolfgang Stroebe von der Universität Utrecht, behindert der Faktor «Gruppe» unkonventionelle Denk- und Ideenansätze in kreativen Prozessen. Der Grund: Wer während eines Brainstormings der mitunter unangenehmen Dynamik einer Gruppe ausgesetzt ist – und dies geschieht immer, wenn Menschen untereinander interagieren, ob dies online oder offline geschieht – schaltet der Kopf unbewusst auf Zensur: geäussert wird nur noch, was im Einklang mit den Norm- und Konformitätsvorstellungen der jeweiligen Gruppe oder den eigenen übereinstimmt. Dieser Effekt verstärkt sich nachvollziehbarerweise, wenn sich die Teilnehmer untereinander kennen, z. B. unter Arbeitskollegen und Vorgesetzten oder Angestellten in einem Unternehmen. Aber auch im kreativen Miteinander unter Fremden bleibt der Zensureffekt bestehen: Menschen wollen keine «falschen» Ideen teilen und haben Angst, sich «unkonform» zu geben. Nimmt man die zahlreichen Onlineplattformen für Social Innovation unter die Lupe, fällt auf, dass der auf den Websites ausgelobte Ansatz sich deutlich auf den positiven Effekt des gemeinsamen Brainstormens bezieht. Menschen sollen im direkten und offenen Austausch untereinander zu guten Ideen kommen oder die Inspiration zu Ideen aus sich selber heraus ziehen.
Die Macht der Crowd nutzen, direkte Kollaboration aber vermeiden
Was unbestrittenerweise (und was auch in verschiedenen Studien nachgewiesen wurde) zu guten und erfolgreichen Ideen führt, ist der Ansatz über eine Vielzahl von Gehirnen, sprich Menschen, zu möglichst vielen Ideen und Teilideen zu gelangen. Eine interessante Studie veröffentlichte beispielsweise die weltweit tätige Industriedesignagentur IDEO, in der sie unter anderem die eindrückliche Zahl von «4’000» ins Spiel brachte: Um eine Idee erfolgreich und nachhaltig im Markt zu etablieren, müssten 4’000 Ideen und Ideenansätze gesammelt werden, welche kombiniert, rekombiniert, weiterentwickelt oder weggefiltert werden würden.
Aber wie kann man das Potenzial einer Internetcrowd nutzen, welche innert kurzer Zeit viele unterschiedliche Ansätze und Ideen sammeln soll und dabei gleichzeitig die direkte Kollaboration unter den Teilnehmern in Social Innovation-Prozessen tunlichst unterbinden? Was auf den ersten Blick nach einem unüberwindbaren Paradox aussieht, ist in Wirklichkeit eine Bauanleitung für eine Social Innovation-Plattform, welche nicht nur einfach ein über 70-jähriges Prinzip für die Ideenfindung «nachbaut», sondern eine solche nach den Möglichkeiten und Erfordernissen und nach der Logik der elektronischen Vernetzung neu beschreibt.
Hilfreich ist in diesem Zusammenhang der Blick zu Websites, welche in anderen Bereichen des Crowdsourcing-Ökosystems webbasierte Softwareprozesse anbieten, so z. B. Crowdlabour-Plattformen wie Amazon Mechanical Turk oder Crowdflower. Bei diesen Plattformen werden komplexere Arbeitscluster, z. B. das Kategorisieren von Tausenden von Bildern in kleine Aufgabeneinheiten heruntergebrochen und an Zehntausende bis zu Millionen von Crowdworkern weltweit weitergegeben. Diese Webworker erledigen einzelne Arbeitsschnipsel und kassieren dafür einen Mikrolohn von wenigen Cents bis wenigen Dollar pro Einheit. Die Software führt die gesammelten Arbeitsergebnisse wieder zusammen. Die Branche wächst.
Was passiert hier? Über das simple, übrigens auch uralte, Prinzip der Arbeitsteilung (nach Adam Smith) und unterstützt durch eine Intelligenz, welche nach der Logik des Webs vernetzt und hochdezentralisiert funktioniert, wird es möglich, eine grosse Anzahl von Menschen verteilt über den ganzen Globus zusammenarbeiten lassen, ohne dass je ein direkter Austausch erfolgt.
Als wir 2011 unseren Internetstartup yutongo. com als Technologie-Projekt starteten, waren wir der Überzeugung, dass ein online geführter Ideenfindungsprozess, der nach ähnlichen Prinzipien wie die bekannten Crowdlabourplattformen funktioniert, auch Kräfte im ähnlichen Ausmass freisetzen müsste. Anstatt unsere Innovatoren also ohne feste Prozessstrukturen Ideen sammeln zu lassen und über bekannte Interaktionsmechanismen wie Kommentarfunktionen «scheinkollaborativ» an Ideen arbeiten zu lassen, entschieden wir uns, den Kern unseres webbasierten Ideenkreationsprozesses nach der Logik der Dezentralität des Webs aufzubauen. So wird bei yutongo eine komplexe Ideenfragestellung – und genau genommen ist jedes noch so einfache Thema ein Komplex verschiedener Teilaspekte – erst in verschiedene kleine Aufgabenhäppchen in der Form einfacher Unterfragen unterteilt. Diese Aufgabenhäppchen werden dezentral an eine beliebige Anzahl von Innovatoren ausgelagert. Die Innovatoren beantworten die einzelnen Fragen und fertigen aus allen gesammelten Nennungen und Teilideen intelligente Ideenkombinationen an. Für die erste Sammel- und die nachfolgende Kombinationsphase gibt es unterschiedliche Tools, auf die der Owner eines Projekts zugreifen kann und die den Ideenfluss kanalisieren. Der Clou: Darüber, dass Innovatoren dabei auf Ideen(roh)material von verschiedenen anderen Innovatoren zugreifen, stellt sich unvermittelt eine neuartige Form der Kollaboration ein: Ideen entstehen gemeinsam, machmal aus «Zufall» und über überraschende Kombinationen, ohne dass die Teilnehmer in einen interaktiven Austaush treten müssen; der Nachteil einer negativen Gruppendynamik fällt somit weg; der Vorteil einer hochproduktiven Crowd, welche eine maximale Ideenvielfalt garantiert, wird «hinübergerettet».
Mit der Übersetzung von Alex F. Osborn ursprünglichem Brainstorming ins Internetzeitalter verhält es sich ein wenig wie in den Anfängen der Fliegerei. Erst als Pioniere wie Otto Lilienthal und die Wright Brothers anstatt der reinen Kopie des Vogelflugs dazu übergegangen sind, einen technischen und eher abstrakten Lösungsansatz anzuwenden, hoben sich die ersten Menschen mit fliegenden Maschinen in die Lüfte.
Unser Gastautor Sandro Morghen, 39, ist Co-Founder von yutongo.com, einer neuartigen Webapplikation für das systematische Entwickeln von Ideen und Innvoationen. yutongo erhielt kürzlich von der Stiftung für Technologische Innovation (STI) in Biel/Bienne eine Seedfinanzierung, welche es yutongo erlaubt, die Entwicklung der Applikation zu Ende zu führen. Sandro Morghen ist ausserdem Co-Author des ersten deutschsprachigen Crowdsourcing-Reports, welcher 2012 mit dem «Neuen Buchpreis» ausgezeichnet wurde.
Links zum Artikel
http://www.sueddeutsche.de/wissen/warum-brainstorming-nicht-funktioniert-windstille-im-kopf-1.1303668
http://www.stangl.eu/paedagogik/artikel/brainstorming.shtml
http://www.inknowaction.com/blog/?tag=ideenmanagement&paged=2
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